Kommentar unter einer Diskussion von 13 Fragen zur Regulierung von Alkoholkonsum

Ich glaube, dass viele Menschen auf der Pro-Alkohol-Seite nicht das dahinterliegende Problem sehen, warum sie auf der Pro-Alkohol-Seite stehen und einer Art Stockholm-Syndrom verfallen sind.

Ja, Alkohol kann enthemmen, glücklich machen und befreien, solange man ihn konsumiert. Allerdings fällt mir auf, dass diese Funktion des Alkohols am allermeisten von den Menschen genutzt wird, die im Alltag hart mit sich selbst umgehen und sich übertrieben selbst disziplinieren wollen. Entweder aus Gründen einer konservativen (oft religiösen) Moral, eines Leistungsdrucks oder Selbstoptimierungswahns. Wo all das zusammenläuft, ist in den Studentenverbindungen, wo zusammen mit einem meist anspruchsvollen Studium auch noch eine Kultur allerlei angeblich wichtiger Traditionen und Regeln kultiviert wird. In einer der harmloseren bin ich selbst Mitglied. Und ich habe solche gesehen, wo der exzessive Alkoholkonsum nicht nur akzeptiert wird, sondern geradezu zur Moral dort dazugehört und wo man als Mensch, der seiner Gesundheit mit Alkohol nicht schaden möchte, wahrscheinlich in der Praxis gar kein Mitglied sein könnte.

Nach meiner Erfahrung ist Alkoholkonsum nicht die Abwesenheit, sondern gerade die Kehrseite von übertriebener Disziplin. Alkohol braucht, wer mit sich selbst nicht zufrieden ist, weil an ihn extreme Ansprüche gestellt werden. Und Alkohol dient dazu, diese Unzufriedenheit in der Gesellschaft zu verschleiern oder zu normalisieren. Wenn Menschen keinen Alkohol brauchen, dann liegt es daran, dass sie mit sich selbst weitgehend im Reinen sind, oder das sie ein Umfeld haben, das sie akzeptiert, wie sie sind. Deshalb müssen wir genau das kultivieren: Akzeptanz von unterschiedlichen Menschen, möglichst wenig Verurteilung von Menschen, weniger Leistungsdruck, weniger Moralisierung. Je mehr wir dahin kommen, desto mehr werden die Menschen wahrscheinlich vom Alkohol, vom Tabak, vom Cannabis und wahrscheinlich auch von Fleisch, Eiern und Milchprodukten loskommen.

Den Konsumierenden müssen wir hier gar nichts verbieten, das wäre das falsche Signal. Wem wir aber etwas verbieten müssen, ist denen, die abhängig von der Abhängigkeit sind wegen Profitinteressen. Also vor allem Werbung, die über reine Information hinausgeht.