Selbst falls Tiere nicht leiden

Der Veganismus hat sich in der heutigen Zeit zum größten Teil darauf fokussiert, auf Basis von nicht-menschlichem Tierleid zu argumentieren. So sehr mir die Sache mit dem Tierleid auch inzwischen am Herzen liegt, finde ich es dennoch befremdlich, wenn diejenigen Veganer:innen, die vielleicht durch das Schauen eines Filmes über Massentierhaltung das größte Schocktrauma ihres Lebens erlitten haben, sich moralisch über die erheben wollen, die - vielleicht noch aus einer gewissen Kopfgesteuertheit heraus - behaupten, aus Umweltgründen vegan zu leben. Und zwar indem sie die Tierleidmotivation als "ethische Gründe" bezeichnen, so als habe ein gewisser Respekt vor dem Überleben zukünftiger menschlicher Generationen, der offenbar keineswegs stabil in der heutigen Menschheit verankert ist, nichts mit Ethik zu tun. 

 

So stark das Argument mit dem Tierleid auch auf die Menschen wirken mag, die vielleicht Haustiere mehrerer Spezies zu Hause haben, die sie alle als seelenverwandt betrachten, so sehr hat es doch einen großen Haken: Obwohl die Existenz von nicht-menschlichem Tierleid für einen Großteil der Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, gilt sie dennoch für viele nicht als wissenschaftlich bewiesen. Nicht, weil die Körper, Gehirne und Gene von Menschen und sogenannten Nutztieren nicht ausgiebig untersucht worden wären und Gemeinsamkeiten gezeigt hätten, sondern weil es sich hierbei schlichtweg um ein philosophisches Problem handelt - das Qualia-Problem. Leiden ist schließlich etwas Subjektives, und Subjektives ist per se nicht in Zahlen messbar und vergleichbar.

 

Wollen wir als Veganer:innen auch diejenigen erreichen, die irgendwie der Überzeugung sind, die Leidensfähigkeit des Menschen beruhe auf irgendeiner dem Menschen exklusiver Qualität, die sich dann wohl in den letzten Jahrmillionen entwickelt haben muss - oder auch die, die der Meinung sind, der Einsatz von Schmerz- oder Betäubungsmittel sei ein ausreichender Weg der Leidvermeidung in der Tierhaltung - so müssen wir uns darüber Gedanken machen, warum eigentlich wir überhaupt dazu neigen, ob vegan oder nicht, unsere gesamte Ethik um das Konzept der Leidminimierung herum aufzubauen.

Auf der einen Seite gibt es da die individuelle Sicht. Aus dieser Sicht ist Leid per Definition die Erfahrung, dass etwas passiert, was wir nicht wollen. Das heißt sobald wir mit einem anderen Individuum kooperieren wollen, weil daraus ein größerer Vorteil für beide entsteht, ist gegenseitige Leidvermeidung die ideale Wertgrundlage dafür, dass beide Seiten langfristig bekommen, was sie wollen. Dadurch macht es das Leben dann auch deutlich einfacher, einfach davon auszugehen, das dieses andere Lebewesen auch leidensfähig ist, auch wenn die darauf hinweisende Evidenz nur indirekt sein mag.

Auf der anderen Seite gibt es da die evolutionäre Sicht, aus der wir uns fragen können, welchem Zweck Leid eigentlich dient. Aus dieser Perspektive wird meines Erachtens klar, dass Leid eben nicht Selbstzweck ist, sondern Symptom. Leiden bei uns selbst kommuniziert uns, dass etwas nicht so läuft, wie es laufen müsste, um unseren Genen die maximale Überlebenssicherheit zu gewährleisten. Oder um es kurz zu sagen:

Leid ist Wahrgenommene Potenzialverschwendung.

Wenn wir uns auf diese Definition einigen können, haben wir einiges gewonnen. Denn an diesem Punkt wird Leid indirekt objektivierbar, da Potenzialverschwendung ein Fakt ist - zumindest in einem für die meisten von uns alltäglichen Weltbild, das davon ausgeht, dass unser Handeln nicht determiniert ist und dass wir anders hätten handeln können. Nicht jede Potenzialverschwendung verursacht Leid, weil nicht jede wahrgenommen wird (zumindest ist das unser heutiger Erkenntnisstand), aber jedes Leid ist Symptom irgendeiner Art von Potenzialverschwendung. Nun lässt sich streiten, ob es für die Bewertung von Potenzialverschwendung wichtig ist, von wie vielen und welchen Perspektiven diese wahrgenommen wird. Sobald sie aber angeprangert werden kann, wird sie definitiv wahrgenommen und wird damit spätestens dann ethisch relevant.

 

Nehmen wir nun also kurz einmal an, dass nicht-menschliche Tiere tatsächlich leiden und nicht philosophische Zombies sind, die nur so aussehen, entsprechende Geräusche von sich geben und entsprechende Hormone ausschütten. Wie kann man sich dann diese Potenzialverschwendung vorstellen, unter der sie leiden, wenn sie sterben oder ihrer Nachkommen beraubt werden? Na ja, sie hat große Ähnlichkeiten mit der, unter der Menschen leiden, wenn ihnen das Gleiche passiert: Auf subjektiver Ebene wünschen wir uns und unseren Nachkommen meistens anstatt des Todes ein langes und erfülltes Leben mit möglichst vielen positiven Erfahrungen. Und das ist nicht einfach so ein aus der Luft gegriffener Anspruch, sondern hat ernsthafte evolutionäre Hintergründe: Gene entwickeln sich über die Jahrmillionen so, dass sie möglichst lange und sicher überdauern und sich weiterentwickeln können. Und dementsprechend kommt es nicht von ungefähr, dass viele Tiere einen Fortpflanzungstrieb entwickelt haben, ein Sicherheitsbedürfnis, einen Freiheitsdrang, einen Überlebenstrieb und nicht zuletzt eine Bindung zu den Nachkommen, um diese Fortpflanzung bestmöglich zu gewährleisten. Ein Großteil dieser Bedürfnisse wird mit dem Schlachten von Tieren verletzt; einige auch mit den Praktiken, die zur Gewinnung der anderen Tierprodukte stattfinden. Das ist die Potenzialverschwendung, die wir als Menschheit Tag für Tag millionenfach begehen.

 

Nun kann man sagen, dass das Potenzial, das wir verschwenden, von den Menschen selbst geschaffen wurde, weil die allermeisten Nutztiere von den Menschen gezüchtet wurden. Und dass wir die Spezies an sich (im Gegensatz zu sehr vielen anderen Spezies, die gerade aussterben) gar nicht daran hindern, weiterhin Evolution zu betreiben. Und das stimmt auch. Das ändert aber nichts daran, dass wir Potenzial verschwenden. Mit der Tierzüchtung verwenden und manipulieren wir den komplexen Mechanismus tierisches Leben, der von der Natur darauf ausgerichtet wurde, Gene optimal weiterzuentwickeln - um dann radikal gegen diesen Zweck zu verstoßen und einzig und allein die darin enthaltenen Nährstoffmoleküle zu verwerten, für deren Gewinnung wir diesen Mechanismus überhaupt nicht gebraucht hätten. Die allermeisten Menschen könnten ihren Nährstoffbedarf ganz ohne tierische Produkte decken. Das Vitamin B12, das in einer vollwertigen pflanzlichen Ernährung noch fehlt, ursprünglich von Mikroorganismen stammt und Tieren aus diesem Grund auch oft zugeführt werden muss, gibt es mittlerweile, da keine Gefahr bei Überdosis besteht, als Supplement rezeptfrei und erschwinglich erhältlich im Drogeriemarkt oder in der Apotheke.

 

Und es ist nicht so, als könnten wir uns diese Potenzialverschwendung leisten. Denn dieser Missbrauch des evolutionären Mechanismus tierisches Leben kostet uns Unmengen an Ressourcen, von Wasser über Platz und Arbeitskraft bis hin zur Artenvielfalt und zur Stabilität des Klimas. Diese Potenzialverschwendung, unter der die Tiere guten Grund haben zu leiden, führt also, im großen Stil durchgeführt und ohne kompensatorische Maßnahmen, zwangsläufig zu etwas, was definitiv eine weitere immense Potenzialverschwendung wäre: Dem Aussterben der Spezies Mensch.

Fazit

Selbst falls die Tiere in der Tierhaltung nicht leiden sollten, hätten sie - und auch wir - guten Grund darunter zu leiden. Selbst falls sie nicht leiden, sollten wir das, worunter die Tiere guten Grund zu leiden haben, nicht tun. Selbst falls sie nicht leiden und wir es nur nie wissen können, wäre uns Menschen geraten, so zu handeln, als würden sie leiden und als könnten wir dieses Leid nicht durch den Einsatz von Schmerz- und Betäubungsmittel abschaffen. Denn auch wenn wir nicht definitiv wissen, ob unser Handeln Tierleid verursacht, verursacht es definitiv eines: Potenzialverschwendung.