Zum Nationalstolz:

Neulich habe ich mal wieder einen Kommentar unter einem Video über US-Politik gelesen, in dem der mangelnde Nationalstolz in Deutschland im Vergleich zu den USA beklagt wurde, und einen weiteren, in dem gefragt wurde, worauf man an Deutschland denn stolz sein könnte. Dazu ist mir das hier eingefallen:

Ich bin stolz darauf, dass Deutschland nicht die USA ist. Hier haben die Menschen eine gesetzliche Krankenversicherung und hinterfragen viel mehr das, was sie sehen und lesen und können Grautöne viel besser erfassen. Wir haben hier auf Führungsebene kein unglaublich offensichtliches Rassismusproblem und hatten bisher keine Regierung, die den Klimawandel oder die Corona-Pandemie geleugnet hat. Wir hatten, zumindest im Westen seit 1945 keine Diktatur mehr und in der Diktatur, die wir im Osten hatten, hatten wir zumindest ein bemerkenswertes Maß an Gleichberechtigung unter den Arbeitenden. Im Vergleich zu den USA haben wir einen richtig gut funktionierenden politischen Diskurs und damit eine richtig gut funktionierende Gesellschaft. Jedes Mal, wenn ich amerikanische schwarz-weiß-denkende Menschen egal welcher politischen Ausrichtung mit großer Reichweite unglaublich vereinfachend über ein Thema reden höre und mich dabei fremdschäme, empfinde ich tatsächlich eine Art Nationalstolz, die mir lange fremd war. Ich denke man braucht den Blick über Ländergrenzen und Ozeane, um den Vergleich zu ziehen und die Kultur im eigenen Land wertzuschätzen und dann kann man durchaus auf die Bevölkerung im eigenen Land stolz sein. Deutschland ist wie das Kind, das im Unterricht als eines der wenigen gut aufpasst und gute Noten bekommt, weil es als eines der wenigen differenzierte Kritik von seinen Eltern bekommt (so wie der Charakter eines Kindes zum Großteil ein Produkt der Eltern ist, so ist der Charakter eines Staats ein Produkt der Menschen, die in ihm leben). Diese Fähigkeit zur differenzierten Kritik in Deutschland ist zwar vielen selbst ernannten Patrioten ein Dorn im Auge, weil sie für sie eine kollektiv-narzisstische Kränkung ist; dabei ist sie genau das, worauf man hier stolz sein sollte. Man kann und sollte hier noch sehr viel optimieren, und ich bin auch normalerweise stark dabei, Kritik an Politik und Gesellschaft zu üben, aber ich finde es auch wichtig, anerkennend auf das zurückzublicken, was die Menschen im eigenen Land in der letzten Zeit erreicht haben, auch dann, wenn man selbst vielleicht wenig dazu beigetragen hat.

Deswegen muss man nicht Menschen an den Außengrenzen verhungern lassen, man muss nicht aus bewährten Staatenbünden austreten und man muss auch nicht blind an jedem Detail der alten Sprache festhalten. Man muss den eigenen Nationalstolz auch nicht als Patriotismus bezeichnen und damit suggerieren, dass man den Erfolg im Land nur Männern oder nur genetischen Verwandten zu verdanken hat. Vielmehr lohnt es sich, in eine Richtung weiterzuarbeiten, die sich bewährt hat: In Richtung mehr Demokratie, mehr Menschenrechte und mehr [...] Freiheit.